Buch

Der Untergang der Titanic - Hans Magnus Enzensberger

Der Untergang der Titanic

von Hans Magnus Enzensberger

Der "Untergang der Titanic" ist ein episches Gedicht. Gehandelt wird darin von einer Geschichte, die, obwohl und weil sie jeder kennt, nichts von ihrer Spannung verloren hat. Das Riesenschiff, das Weltwunder und Ungeheuer, das in einer eisigen Nacht des Jahres 1912 versank, war nämlich ein ganz gewöhnlicher Dampfer - und zugleich ein Mythos: Inbegriff des Fortschritts, wie das neunzehnte Jahrhundert ihn verstand und wie das unsrige ihn immer verzweifelter betrieb und über sich ergehen läßt.

In dreiunddreißig Gesängen wird die Katastrophe dargestellt; sie wird erzählt und bewiesen, dokumentiert und bezweifelt, halluziniert und untersucht - mit allen Einzelheiten, mit der Mannschaft und den Passagieren, den Toten und den Überlebenden, der gesellschaftlichen Hierarchie des Schiffs, seiner Architektur, seinen Salongemälden, dem First-Class-Dinner, den Drahtnachrichten, Zeitangaben, Temperaturen und Geräuschen. Aber dieser Untergang ist nicht nur ein aktenkundiges Unglück aus der Vergangenheit. Als Geisterschiff ist die Titanic immer noch unterwegs. Wie gegenwärtig sie ist, das zeigt sich daran, daß ihr Los sich auch heute noch widerspiegelt in Filmen und Alpträumen, in allen Medien der Phantasie. Enzensbergers Gedicht hat es nicht zuletzt mit dieser imaginären Titanic zu tun, mit dem "Untergang im Kopf". Zwischen die dramatischen, lyrischen und balladesken "Gesänge" treten Texte, die der Handlung sozusagen äußerlich sind, die sie kommentieren: Bildbeschreibungen, polemische Gedichte, erkenntnistheoretische Modelle, Exkurse und Vergleiche. Es nimmt wunder, wie hier eine literarische Großform, die in unserer Literatur seit mehr als einem Menschenalter ausgestorben schien, scheinbar mühelos wiederaufgenommen und gerettet wird. Galt nicht das "Versepos" als die unlesbarste und obsoleteste aller Gattungen? Nur bei uns zu Lande; anderswo haben Autoren wie Williams und Majakowskij, Perse und Neruda seine Vitalität auch in diesem Jahrhundert unter Beweis gestellt. Wer will, kann sich davon überzeugen, daß die Angst vor dem sehr langen Gedicht abergläubisch war, daß diese Form nicht nur tragfähig ist, sondern einen eigentümlichen Sog entwickelt, und daß sie den Leser nicht weniger verwickeln und in Bewegung setzen kann als ein Roman. Noch etwas anderes mag an Enzensbergers Gedicht, unter heutigen Produktionsbedingungen, ungewöhnlich anmuten: Nahezu zehn Jahre lang ist hier ein Autor mit seinem Buch umgegangen. Die Langwierigkeit dieser Arbeit ist nicht spurlos an dem Gedicht vorübergegangen. Begonnen 1969 in Cuba, verlorengegangen, hartnäckig wiederaufgenommen, oft verworfen und immer weiterverfolgt, nimmt es manche Erinnerung an, die Jahre und Orte seiner Entstehung in sich auf. Unter die namenlosen Überlebenden der Katastrophe von damals mischen sich die Überlebenden von heute, und unter ihnen befindet sich einer, der Bericht erstattet. Er versteckt sich, er tritt hervor, und der Schauder ist ihm ebensowenig fremd wie die kaltblütige Analyse. Ein komplizierter Humor wechselt ab mit dem Eingeständnis der Todesangst, und dicht neben dem Liebesgedicht steht das bösartige Potpourri. Einfache Gefühle, aber auch andere, die nicht auf die geläufigen Namen hören wollen. Zuweilen ist es die Wut, aus der die Meditation sich speist, oder das Mitleid äußert sich in der Maske des Zynismus. Keine "korrekte Position" wird hier eingenommen; die Gerechtigkeit der Poesie ist nicht von dieser Art; im Zweifelsfall hält sie es mit denen, die untergehen. Kein einzelnes Moment kann in dieser Komödie von Dauer sein, "weil es die Lebenden sind, die den Toten mit ihren Schreckensnachrichten in den Ohren liegen". Weil "die Überlebenden nicht müde werden, von Überleben zu fabeln, bis sie es müde sind". Doch auch dann noch, wenn die Feinde gegangen, die Freunde verloren sind, wenn sich Hoffnung und Geduld verbraucht haben, während andere ertrinken, geht das Überleben weiter, heulend und zähneknirschend, und kaum besiegbar.

Weitere Infos

Art:
Hardcover
Genre:
Klassiker Lyrik
Umfang:
114 Seiten
ISBN:
9783518027622
Verlag:
Suhrkamp
8
Eigene Bewertung: Keine
Durchschnitt: 4 (2 Bewertungen)

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