Rezension

Zwischen-Welten

Das Jahr ohne Sommer -

Das Jahr ohne Sommer
von Constanze Neumann

Bewertet mit 4 Sternen

Während Constanze Neumann in ihrem 2021 erschienenen Roman 
„ Wellenflug“ das Leben ihrer Urgroßmutter und deren Schwiegermutter verarbeitet hat, geht es in ihrem neuesten Buch wohl um ihre eigene Geschichte. „ Das Jahr ohne Sommer“ kommt ohne Gattungsbezeichnung 
„ Roman“ aus und wird streng aus der Ich- Perspektive erzählt.
Die namenlose Ich- Erzählerin ist noch ein kleines Kind, als ihre Eltern 1977 die Flucht aus der DDR wagen. Doch durch den Verrat eines der beteiligten Fluchthelfer werden sie entdeckt. Beide Eltern kommen ins Gefängnis und das kleine Mädchen wird nach ein paar Tagen Kinderheim von den Großeltern nach Leipzig geholt. Anderthalb Jahre später werden die Eltern vom Westen freigekauft und sie dürfen ausreisen. Und danach darf auch die Tochter Ostdeutschland verlassen. Wieder ein Einschnitt, denn der Abschied von der geliebten Großmutter fällt ihr schwer.
Nach ersten Anlaufschwierigkeiten findet der Vater eine Stelle als Leiter einer großen Musikschule in Aachen. Kein leichter Neuanfang für einen Mann Anfang Fünfzig. Doch mit dem unbedingten Willen, alles richtig zu machen, gelingt ihm dieser. 
Für die wesentlich jüngere Mutter gestaltet sich das Ankommen in der neuen Heimat schwieriger. Im Gefängnis war sie sehr krank geworden und ist nun immer noch körperlich und psychisch angeschlagen. Ihr Ziel, wieder so wie zuvor Geige spielen zu können und einen Platz in einem Orchester einzunehmen, wird sie nie mehr erreichen. Ihre Arme und Finger verweigern den Dienst; da hilft auch das stundenlange Üben nichts.
Die Familie hat Schulden. Die Flucht hatte Geld gekostet, neue Möbel mussten angeschafft werden. Doch an Büchern wurde nie gespart. Endlich konnten sie sich all die Bücher kaufen, die in der DDR verboten oder nicht erhältlich waren.
Schön und schmerzhaft zugleich sind die Treffen mit der in Leipzig gebliebenen Großmutter. Möglich sind die nur in den Sommerferien in getrennten Unterkünften in der Tschechoslowakei, wohin alle Beteiligten reisen durften. Mit zehn Jahren kann die Ich- Erzählerin auch allein die Oma besuchen. Dabei aber immer die Ermahnung des Vaters im Ohr, nie den Pass, der sie als Bundesbürgerin auswies, aus den Händen zu lassen. 
Nüchtern und unsentimental berichtet die Ich- Erzählerin vom Aufwachsen im Westen. In der Grundschule freundet sie sich mit dem einzigen Mädchen an, das wie sie eine Außenseiterin ist, ein Mädchen aus Korea. 
Und sie verspürt bald die Trennung, die zwischen der Welt daheim und der Welt draußen besteht. Die Leichtigkeit draußen und drinnen „ die Angespanntheit meines Vaters, alles richtig zu machen, es zu schaffen in dem Land, das ihn und uns aufgenommen und Chancen gegeben hatte. Drinnen waren die DDR, …, und die Angst meines Vaters, dass die westdeutschen Politiker die Gefahr, die von der UdSSR ausging, nicht ernst nahmen.“ Die Wünsche der Westdeutschen nach Abrüstung und Frieden waren ihm fremd.
„ Die beiden Welten draußen und drinnen berührten sich, sie existierten nebeneinander, ich konnte von einer in die andere schlüpfen, aber ich konnte sie nicht zusammenfügen.“
Das Gefühl der Zerrissenheit sollte bleiben. Und eine Verständigung mit den Westdeutschen sollte nicht möglich sein. Zu unterschiedlich waren die jeweiligen Erfahrungen und das Interesse am Osten im Rheinland kaum vorhanden. 
Die Friedensbewegung im Westen gewinnt an Zulauf, der Vater beobachtet Glasnost und Perestroika mit Unglauben und Misstrauen.
Als die Mauer fällt ist die jugendliche Ich- Erzählerin in den USA zum Schüleraustausch. Aber nun entfremdet sich der Vater auch von seinen früheren Leipziger Freunden. Die träumen vom dritten Weg als Chance einer Veränderung und der Vater vertritt die Position der Westdeutschen, die sich auf der richtigen Seite fühlen. 
Die Ich- Erzählerin muss sich Vorwürfe von einer ostdeutschen Studentin gefallen lassen, die vehement die Flucht ihrer Eltern verurteilt. „ Da hätten sie die paar Jahre auch noch warten können,…“
Constanze Neumann erzählt in einer schnörkellosen und klaren Sprache. Gerade in der kindlichen Perspektive zeigt sich ein unbelasteter, aber deshalb genauer Blick auf die Geschehnisse. In prägnanten Szenen wird eindrucksvoll beschrieben, wie schwierig ein Neuanfang in einem fremden Land sein kann. Auch wenn man dieselbe Sprache spricht, heißt das noch lange nicht, dass man verstanden wird. Aber das Leben im Dazwischen hinterlässt seine Spuren. Davon erzählt Constanze Neumann im Epilog.
„ Das Jahr ohne Sommer“ ist eine eindringliche Lektüre über den Verlust von Heimat und einem Neuanfang, über das Leben im Dazwischensein; ein lesenswerter Beitrag zur deutsch-deutschen Geschichte.