Rezension

Über das Menschsein

Kälte -

Kälte
von Szczepan Twardoch

Bewertet mit 5 Sternen

„Ihr wisst nicht, wie Russland kommt, wenn es kommt. Russland, wenn es kommt, kommt groß, obwohl seine Menschen elend, schwach sind, aber es kommt groß und ist nicht imstande, etwas neben sich zu dulden, was nicht Russland ist […].“

Szczepan Twardochs neuer Roman verhandelt anhand der neueren russischen Geschichte die Frage, was den Menschen ausmacht und unter welchen Bedingungen Menschlichkeit möglich ist.

Der Roman beginnt mit einer Rahmenhandlung in der Gegenwart. Deren Erzähler hört sich an wie Twardoch himself, hat einige Eckdaten mit ihm gemeinsam und ist auf einer Segelfahrt im Nordmeer unterwegs. Der Skipper, eine rätselhafte alte Frau, hat ihm die Notizbücher Konrad Widuchs übereignet. Diese Notizbücher, geschrieben 1946,  erzählen Konrads Lebensgeschichte und bilden den Kern des Romans. Was hat die alte Frau mit Konrad zu tun? Und wie ist der reale Twardoch mit alldem verbunden?

Konrad, Jahrgang 1895, war Teil des historischen Geschehens zwischen Deutschland, Polen und Russland. (Die zahlreichen historischen Bezüge werden vorausgesetzt; zum Glück gibt es Wikipedia). Zunächst als Soldat des deutschen Kaisers, dann als bolschewistischer Funktionär, schlussendlich als politischer Häftling in einem Gulag Sibiriens. Konrads Flucht aus dem Gulag endet in Cholod, dem Dorf der Ljandis, einem fiktiven arktischen Volk. Bei den Ljandis kann Konrad aufatmen – doch dann greift plötzlich der lange Arm Russlands nach Cholod. Die Rettung scheint Seweras zu sein, so etwas wie das Gelobte Land der Ljandis. Aber gibt es Seweras überhaupt?

Das Volk der Ljandis dient als Gegenentwurf zu Russland. Trotz des auf den ersten Blick folkloristischen Settings liefert der Roman weder  heroische Rebellen noch edle Wilde nach dem Vorbild Karl Mays. Die Kultur der Ljandis ist so willkürlich wie jede andere und so grausam, wie es die gnadenlose Arktis erfordert. Gleichzeitig heiligen sie das Gastrecht und praktizieren eine Form der Basisdemokratie.

Twardochs Antiheld Konrad ist dagegen das Produkt Russlands: Zynisch, verroht und abgestumpft; traumatisiert und deformiert von einem Leben voller Angst und Gewalt, schreibt er, um nicht den Verstand zu verlieren. Seine Geschichte steht stellvertretend für alle, die an eine Utopie glaubten, sich in ihrem Namen schuldig gemacht haben und in den Mühlen des Totalitarismus zermahlen wurden. In unmenschlichen Systemen kann es keine Menschlichkeit geben.

Ich habe diesen Roman mit steigender Faszination und oftmals mit Grauen gelesen. Twardochs literarische Meisterschaft zeigt sich in jedem Aspekt des Buches. Ihm gelingen vielschichtige, authentisch wirkende Figuren. Die elegante Sprache und Stringenz im Strang der Gegenwart steht im Kontrast zum Erratischen, Sprunghaften und Assoziativen von Konrads Sprache, die es schwer macht, sein Erleben zeitlich einzuordnen. Die Gewaltexzesse, die Konrad mit zynischer Kälte schildert, sind schwer zu ertragen. Dem stehen sensible, oft lyrische Beschreibungen der arktischen Natur gegenüber. Twardoch switcht souverän von Genre zu Genre. Das Sozialdrama wechselt in den Berichtsmodus, der Abenteuerroman wird zur archaischen Tragödie und changiert schließlich ins Phantastische. Immer wieder verschwimmen Realität und Fiktion durch das fluide Wesen von Konrads Erinnerung – auch das ein Thema des Romans. Das alles ist höchst kunstvoll verwoben und nicht immer leicht zu lesen.

Die Zusammenführung der Erzählstränge bietet Raum für eine Vielzahl von Interpretationen. Als ich das Buch zuklappte, merkte ich, dass ich den Atem angehalten hatte und musste erstmal ausatmen. Ein Roman von unglaublicher Wucht.

Kommentare

wandagreen kommentierte am 23. Mai 2024 um 11:09

Du kannst lange den Atem anhalten  - wie ein Apnoetaucher.